Assoziatives Wörterbuch der Pandemie: "systemrelevante Berufe"
Als ich diesen Ausdruck in Carolin Emckes lesenswerten Notizen las, stolperte ich. Sie schreibt über ein Literaturfestival das ausfallen musste. „Ich hoffe, das Festival wird als das erkannt, was es schon lange war: unverzichtbar, „systemrelevant“ wie das neudeutsch wohl heißt“. Ich stolperte, weil ich das Wort mit einem anderen, den „Systemparteien“, assoziierte.
Das Wort "systemrelevant" betrügt, weil es den Charakter der Offenheit abspricht. Wo es auf die Gesamtgesellschaft angewandt wird, spielt es jenen in die Arme die das „System“ und sie meinen damit nicht das „System der Ware Arbeitskraft“ abschaffen wollen. Höcke meint „….dass nicht nur Merkel weg muss, sondern dass das Merkel-System weg muss […] und dieses Merkel-System sind sämtliche Kartellparteien, die es nicht gut mit diesem Land meinen.“ (Quellenangabe und weitere Zitate)
Es braucht keine großartige theoretische Verteidigung des Worts „System“ und der Möglichkeit „offener Systeme“. Mir geht es um das Gespür der Sprache und wie sich der Klang bestimmter Worte verändert. Heute schleppt das Wort "systemrelevant" schon die Möglichkeit der Abschaffung des Systems hinter sich her.
Berufe „systemrelevant“ zu nennen, ist aber auch intuitiv stimmig. Tatsächlich scheinen einige Berufe von der Müllabfuhr über die Verkäufer/innen an der Supermarktkassen bis zum Chefarzt (inklusive der geschlechtlichen Ordnung und den entsprechenden Gehältern) „systemrelevant“ für die Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems aber auch des „Gesamtsystems“ der Gesellschaft von der Grundversorgung bis zur politischen Vertretung.
Das Wort trifft, dass die meisten Bereiche unseres Lebens als „System“ organisiert und im Verhältnis zu früheren, weniger verwalteten Epochen doch streng in sich geschlossen und nur durch regulative Eingriffe veränderbar sind. Eine zweite Assoziation führte mich zu einem netten Spruch des österreichischen Dramatikers Thomas Köck: "Wo der Markt hinfällt, muss Kultur eine Ausrede finden." So sind auch die Kulturfestivals "systemrelevant".
Statt „systemrelevant“ wäre es wohl ehrlicher von „überlebensnotwendigen“ Berufen zu sprechen. Denn was diese Krise – vielleicht auch nur aus der speziellen Perspektive desjenigen, der in New York sitzt – unmittelbar ist, ist ein Überlebenskampf. Die Menschen sind trotz aller technischen, sozialen und gesundheitlichen Systeme bisher nicht weit über den bloßen Kampf ums( soziale, finanzielle und emotionale) Überleben hinaus. Menschliches Leben und System sind nicht deckungsgleich. Manche würden behaupten, dass sie sich ausschließen, die Freiheit erst da beginnt, wo das System aufhört.
Ach, das ist wirklich bemerkenswert! Wie merkwürdig der Begriff "systemrelevant" in Bezug auf die genannten Berufe ist, ist mir bisher gar nicht aufgefallen. Das hat sicher auch damit zu tun, dass der Begriff intuitiv ein erstmal ein passendes Bild hervorruft und zwar: Der Staat greift ein. Glaubt man Wikipedia, bildete sich der Begriff ja zuerst im Rahmen der Finanzkrise ab 2007 heraus, um Unternehmen zu bezeichnen, welche too big to fail waren. Sprich: Ihr Scheitern hätte angeblich solche verhehrende Folgen für die Gesellschaft gehabt, dass der Staat sich dafür entschied, entgegen einer Marktlogik von Staatsseite rettend einzugreifen.
Die Parallele zu 2007 ist, dass die Mechanismen des Marktes scheitern und der Staat nun wieder eingreift - und zwar auf eine Weise, die offensichtlich im Widerspruch zur sonst gängigen Marktlogik steht (ob nun enger oder weiter ausgelegt). Er greift aber nicht nur in die Wirtschaft ein, sondern auch in das öffentliche Leben und die liberalen Grundfreiheiten. Interessant ist also, dass hinter dem Begriff "systemrelevant" eigentlich auch eine Art Appell steht bzw. eine Rechtfertigung für den Staat, Dinge zu tun, die sonst in unserer kapitalistisch-demokratischen Grundordnung als zu weitgehend angesehen würden.
Ich habe nur kurz im Internet recherchiert und mir scheint, interessanterweise, dass der Begriff "systemrelevant" von der Staatsexekutive selbst ins Spiel gebracht wurde. (Wie das 2007 war, weiß ich nicht.) So hat anscheinend jedes Bundesland eine Liste von systemrelevanten Berufen festgelegt, welche an die "Verordnung zur Bestimmung kritischer Infrastrukturen nach dem Gesetz über das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI-Gesetz)" angelehnt sind. Der Bund hat ebendort auch 9 systemrelevante Sektoren definiert: Energie, Wasser & Entsorgung, Ernährung & Hygiene, Informationstechnik & Telekommunikation, Gesundheit, Finanz- & Wirtschaftswesen, Transport & Verkehr, Medien, staatliche Verwaltung, Schulen, Kinder- & Jugendhilfe, Behindertenhilfe. (Merke: Kultur ist nicht darunter. Fällt Autoindustrie mittelbar unter Transport & Verkehr?) Für systemrelevante Berufe gelten Sonderregelungen, so sind Menschen in systemrelevanten Berufen in vielen Bundesländern berechtigt, ihre Kinder in Notbetreuung zu geben. Gleichzeitig hat das Arbeitsministerium das Arbeitszeitgesetz aufgeweicht, so dass Menschen in systemrelevanten Berufen mitunter nun 12-Stunden-Schichten schieben müssen und kürzere Ruhepausen haben. Es werden hier also auch Maßnahmen ergriffen, die sonst im Rahmen der Grundordnung unserer Gesellschaft (so schnell) nicht möglich wären.
Aber wie definiert die Exekutive das Wort "systemrelevant" eigentlich?! Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe schreibt:
Sprich in dem Begriff "systemrelevant" steckt, wie Du auch angesprochen hast, anscheinend bereits der Zivilisationsgedanke: Dass wir in einer ausdifferenzierten Gesellschaft leben, ohne die viele uns wahrscheinlich nur schlecht überleben könnten. Diese Berufe sind überlebensnotwendig, weil ohne sie das komplexe System unserer Gesellschaft zusammenbrechen würde, welches wiederum für uns überlebensnotwendig ist. Was uns daran erinnern sollte, dass in einer Gesellschaft, in der (zu) viele Menschen um das soziale, finanzielle und emotionale Überleben kämpfen, irgendetwas dysfunktional ist. Insofern würde ich auch sagen, dass auf gewisse Weise Freiheit beginnt, wo das System aufhört: Freiheit beginnt, wenn das System uns ermöglicht, unsere Zeit nicht ausschließlich auf die Aufrechterhaltung des Systems zu verwenden, sprich auf unser gemeinsames Überleben.
Ach, nee, und nur 5 Tage später stoße ich auf einen zehnminütigen Beitrag Robert Schlossers, der eine Unterscheidung wie Du, Andreas, zwischen "lebensnotwendigen" und "systemrelevanten" Dingen macht (allerdings dezidiert aus einer marxistischen Perspektive): "Systemrelevant ist alles, was die Verwertung von Wert betrifft, das aber ist nicht lebensnotwendig. Im Kommunismus braucht es keinen Kredit und keine Banken - gebraucht werden aber auch Krankenhäuser und nötig sind die Arbeiten, die in ihnen verrichtet werden."
Robert Schlosser hat seit Ende der 60er Jahre die wechselhafte Geschichte der BRD-Linken mitgemacht - zuerst maoistisch orientiert, später als Linkskommunist -, verfasst regelmäßig Artikel zu marxistischer Theorie und aktuellen Themen aus linker Perspektive und arbeitete viele Jahre als angelernter Arbeiter, Facharbeiter und technischer Redakteur in verschiedenen Industriebetrieben. (Vor allem im Zuge der linken Fabrikinterventionen der 1970er Jahre, die vom Operaismus in Italien inspiriert waren. 1970/71 z.B. als Bandarbeiter bei Opel.) Der vertonte Text über "die Pandemie, kapitalistische Warenproduktion und Kommunismus" erschien auf dem Blog Solidarisch gegen Corona und wurde dort veröffentlicht, um "eine Debatte über Alternativen zu der kapitalistischen Produktionsweise anzustoßen." Es geht dabei vor allem um die Frage, was anders wäre, wenn eine Pandemie auf eine kommunistisch organisierte Gesellschaft und Wirtschaft treffen würde.
Um noch eine weitere mögliche Bezeichnung mit reinzubringen, die einen bedeutenden Punkt aus der Perspektive von Arbeiter/*innen anführt: In diesem für mich sehr nachdrücklichen und für die NYT ungewöhnlich deutlichen Artikel zitiert Sujatha Gidla, die U-Bahnzugführerin in NY ist, eine/n Kolleg/in: “We are not essential. We are sacrificial.” Das fügt sich in die obige Diskussion. Im usamerikanischen Englisch wird vor alem von "essential workers" gesprochen. Was allerdings "essential" ist steht dahin und scheint angesichts des föderalen Systems, worauf Du auch für Deutschland hinweist, in jedem US-Bundesstaat unterschiedlich definiert. (Trump posaunte gestern heraus, dass er Kirchen für "essential" erklärt und damit alle Kirchen wieder öffnen würden, woraufhin sofort die Gouverneure meinten, dass er gar keine Machtbefugniss dazu hätte.)
Du weist ja schon auf die verlängerten Arbeitstage hin und die Notbetreuung ist ja auch dazu da, die Leute am arbeiten zu halten. "Sarcrificial", "entbehrbar" oder vielleicht eher "aufgeopfert", deutet nicht nur darauf hin, dass viele Menschen keine Wahl haben, ob sie unter solchen Bedingungen weiterarbeiten, sondern auch darauf, dass sie in ihren Berufen individuell austauschbar sind bzw. auf diese Weise behandelt werden.
Wenn ich meine obigen Gedanken nochmal umdrehe, dann würde ich evtl hinzufügen, dass die Unterscheidung von "systemrelevant" und "überlebensnotwendig" zwar hilfreich ist - auch wie Du sie im Sinne Schlossers schilderst. Andererseits aber droht sie zugleich einen Unterschied zu stark zu machen, der so evtl nicht so klar gezogen werden kann. Sie vermittelt evtl den Eindruck, dass es ein "System" gibt innerhalb des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhangs, dass irgendwie getrennt wäre von diesem und dass die Verwertung des Werts betrifft, und daran ließe sich zweifeln, insofern sich die verschiedenen gesellschaftlichen Sphären heutzutage doch sehr stark durchdringen, auch was die Verwertung des Werts betrifft.
Es könnte auch wiederum gesagt werden, dass "systemrelevant" ehrlicher ist, weil es zugibt, dass noch die überlebensnotwendigen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens Teil eines Systems sind, über das gesellschaftlich verfügt wird und dass diese Verfügungsgewalt Teil eines politischen Systems ist. Ich habe in meinem ersten Post das mit den "Systemparteien" assoziiert und mit der Rede der Rechten, die letztlich ja doch darauf hinausläuft - auch Mal im pseudo anti-kapitalistischen Tonfall - das System abschaffen zu wollen.
Das Problem erscheint in dieser Redeweise, dass sich widersprechende politische Ansichten einheitlich als Teil eines "Systems" gebrandmarkt werden, das dann als Ganzes abgeschafft werden soll. Ich habe heute einen Kommentar gelesen (leider finde ich den Link nicht mehr), der argumentierte, dass der Versuch, eine vermeintlich einheitliche Geschlossenheit politischer Demokraten herzustellen bzw im Sinner derselben zu argumentieren, Gefahr läuft, sich dem Anschein nach genau als das darzustellen, als was die Rechte sie sehen will, statt sich die Konflikte einzugestehen. Ums etwas ab vom Thema Corona zu sagen: Einen Söder auf der Anti-AfD-Demo - das mag dem allgemeinen Gefühl, dass die CSU demokratisch gesinnt ist zwar wohltun, aber eben auch überschatten, was die CSU der AfD nicht nur an Parolen geliefert, sondern maßgeblich vom Programm der AfD umgesetzt hat, vor allem in der Asylpolitik.
Ja, es verstärkt möglicherweise den Effekt, dass Anhänger*innen von Verschwörungsideologien sich einer Verschwörung, dem "System" Merkel, ausgesetzt wähnen. Wobei sich aber auch die Frage stellt, ob diese Menschen überhaupt von ihren Verschwörungsvorstellungen abzubringen sind. Diese Vorstellungen wirken meist wie recht vereinfachte Bilder von einer komplexen Welt und sind gleichzeitig sehr widerstandsfähig gegenüber Argumenten und gegenüber der Mannigfaltigkeit der Realität allgemein. Ich vermute, weil diese Bilder ein Schutz vor einer Überforderung mit der Komplexität der Welt sind, weshalb auch alles, was Komplexität mit sich bringt, herausgefiltert wird, quasi als psychische Abwehrreaktion.
Aber selbst, wenn wir mal von der Perspektive solcher Menschen absehen, stellt sich, finde ich, die Frage, ob es überhaupt Redeweisen gibt, welche über gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge sprechen, ohne aber an sich gewisse Widersprüche dabei verschwinden zu lassen. Im Endeffekt geht ja bei dem analytischen Übergang von der Mikro- zur Makroebene immer Besonderheit, Abweichung, Individualität verloren. Das ist ja auch so, wenn wir von Verwertung des Werts, Klassen oder selbst von der Invidividualisierung der Gesellschaft sprechen. Eine interessante Frage wäre, ob sich Kriterien dafür aufstellen lassen, wann eine Makro-Perspektive unzulässig Widersprüche verdeckt und wann zulässig. (Und ob z.B. eine vermeintlich einheitliche Geschlossenheit politischer Demokraten auf andere Weise Widersprüche verdeckt, als dies eine Perspektive unter dem Gesichtspunkt der Verwertung von Wert tut.)
Deine Überlegungen zu den Begriffen "überlebensnotwendig" und "systemrelevant" finde ich sehr treffend! Der zentrale Punkt scheint mir, dass überlebensnotwendige Tätigkeiten in jeder Gesellschaft systemrelevant sind, aber immer auf spezifische Weise. Zum Beispiel ist die Produktion von Nahrung im neoliberalen Kapitalismus genauso systemrelevant, wie sie es im chinesischen Staatskapitalismus ist, denn beide "Systeme" würden zusammenbrechen, wenn sie die Nahrungsmittelproduktion nicht leisten würden. Sie tun dies aber auf jeweils verschiedene Weise und sind insofern, wie Du schriebst, "Teil eines Systems [...], über das gesellschaftlich verfügt wird" bzw. "diese Verfügungsgewalt [ist] Teil eines politischen Systems". Schlosser hatte es mit seiner Unterscheidung ja eher auf jene Bereiche abgesehen, welche systemrelevant, aber nicht überlebensnotwendig sind - natürlich auch, um einen Vergleich zwischen Kapitalismus und Kommunismus zu ziehen, welcher für letzteren vorteilhaft ausfällt. Denn im Kommunismus, so wie er ihn sich vorstellt, würden finanzwirtschaftliche Bereiche nicht als systemrelevant definiert und damit auch keine Ressourcen in sie gesteckt werden, die dann vielleicht an anderer Stelle, wie dem Gesundheitswesen fehlen. Hier ließen sich noch einige spannende Gedankenspiele anstellen: Welche wirtschaftlichen Bereiche überhaupt, die im Kapitalismus systemrelevant sind, sind es im Kommunismus nicht? Und welche Bereiche wären im Kommunismus systemrelevant, die es im Kapitalismus nicht sind?
Und den Beitrag in der New York Times finde ich eine sehr gute Beobachtung! Im Grunde lässt sich wahrscheinlich sagen, dass der Staat oder die Gesellschaft, wenn sie einen Bereich als systemrelevant definieren, damit gleichzeitig die Individuen in diesem Bereich bis zu einem gewissen Grad für entbehrlich erklären, nach dem Motto: for the greater good - solange das nicht die Gesamtfunktion des Bereichs in Frage stellt. Dieser Logik lässt sich von der Arbeitendenseite wahrscheinlich nur entgegen und widersetzen nach dem IWW-Motto: An injury to one is an injury to all.